„Wenn ich jemals feindselig war, dann gegenüber der Dummheit und gegenüber der Verletzung von Menschenrechten.”

Quelle und weitere Zitate

Das Nashorn in uns

Eugène Ionesco hat mit seiner Novelle „Rhinocéros“ und dem gleichnamigen Theaterstück die Entschmenschlichung thematisiert. Am Ende widersteht ein Individuum der Verwandlung seiner gesamten Umwelt, ein Individuum, das die von Ionesco formulierte Regel bestätigt, dass der Mensch nur selten die Kraft hat, dauerhaft allein dazustehen. Der Protagonist Behringer ist ein solch seltenes Exemplar. Er beschließt trotz allen Drucks der Anpassung, des Mitmachens und des Alleinseins, nicht zu kapitulieren, Mensch zu bleiben.

Während die Novelle inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten ist, erfreut sich das Theaterstück „Die Nashörner“ noch heute großer Beliebtheit. Eugène Ionesco ist es in den Fünfziger Jahren gelungen, einen gesellschaftlichen Mechanismus zu beschreiben, der auch nach dem bis dato dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte nicht der Vergangenheit angehört.

Wenn man heute einen kritischen Blick auf das Werk wirft, fällt zunächst auf, dass die Symbolisierung der Entmenschlichung durch ein eher friedliebendes, sogar vegan lebendes Tier Anlass zu Diskussionen bietet. Unglücklicherweise bietet das Nashorn einige Eigenschaften auf, die sich gut für die Symbolisierung missbrauchen lassen. Glücklicherweise hat das dem Ruf des Tiers nicht nachhaltig geschadet. Trotzdem wird das Nashorn, wie viele andere Tierarten, vom Menschen peu à peu verdrängt und ausgerottet. Eine traurige Randnotiz.

Wenn man das Werk mit Blick auf den Zustand unserer „modernen“ Gesellschaft und auf zwei große Krisen unserer Zeit liest, fällt die geradezu dem digitalen Zeitalter entsprungene Betrachtung von Menschlichkeit ins Auge: Eins und null, ein Mensch, ein Unmensch. Es wirkt fast wie ein Schalter, den man umlegen kann. Nun, es gab und es gibt heute immer noch Menschen, die den Prozess der Entmenschlichung zu annähernd 100% abgeschlossen haben. Ihre Namen stehen in den Geschichtsbüchern und aktuell wieder in jeder Ausgabe einer Tageszeitung. Bei den historisch überlieferten Unmenschen hat man versucht, sie als Monstren darzustellen, die eigentlich mit unserer Spezies nicht in Verbindung zu bringen sind. Aber jede nähere Betrachtung hat leider ergeben: sie waren Menschen. Und diese Menschen wurden von zahlreichen anderen Menschen in ihren Untaten unterstützt oder sie haben ihnen zumindest den Weg bereitet. Das bringt uns zu der Frage, wie viel Monstrum, wie viel Nashorn steckt in uns? Weichen wir einmal ab von der wohl irrigen Annahme, dass es nur die Extreme gibt: Wo, mit welchen Handlungen und Einstellungen beginnt in uns selbst der Prozess der Entmenschlichung? Handeln wir tagtäglich als Menschen, ist also Menschlichkeit unser oberstes Gebot? Oder stellen wir nicht sehr häufig Eitelkeit, Opportunismus, Bequemlichkeit, Machtinteressen, Wirtschaft, Ideologie etc. weit vor Menschlichkeit? Diese Fragen sollten sich Menschen in jeder Funktion ihres Daseins stellen. Das Nashorn im Ionesco‘schen Sinne steckt in uns allen. Unsere Handlungen sind es, die uns zu Menschen machen oder den Prozess unserer eigenen Entmenschlichung voranbringen.

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