„Wenn ich jemals feindselig war, dann gegenüber der Dummheit und gegenüber der Verletzung von Menschenrechten.”

Quelle und weitere Zitate

Ein Briefumschlag erzählt eine Geschichte

Im Dezember des Jahres 2023 erhielt ich eine Anfrage aus Frankreich, ob ich Interesse an einem von Eugène Ionesco persönlich adressierten Briefumschlag hätte. Da ich kein Sammler im engeren Sinne bin, musste ich einen Augenblick nachdenken. Aber dieser Umschlag schien mir eine Geschichte zu erzählen. Also konnte ich nicht widerstehen.

Nun halte ich hier einen Briefumschlag in der Hand, den Eugène Ionesco Ende November 1950, also vor rund 73 Jahren, eigenhändig adressiert hat. Der Umschlag enthielt einen Brief an die Gattin des französischen Dichters und Essayisten André Rolland de Renéville (1903 – 1962). Nach dessen Tod landete der Umschlag in einer größeren Sammlung des französischen Autors Claude Seignolle (1917 – 2018). Nach dessen Tod wurde die Sammlung versteigert. Die freundliche Anfrage aus Frankreich stammte von jemandem, der einen Teil davon wegen historischer Korrespondenzen eines bestimmten Schriftsteller erwarb. Für den Briefumschlag von Eugène Ionesco suchte er einen Interessenten und wurde dabei auf die Website ionesco.de aufmerksam.

Nun, welche Geschichte erzählt uns dieser unscheinbare Umschlag? Der Brief trägt einen Poststempel vom 29.11.1950. Die von Eugène Ionesco eigenhändig geschriebene Absenderadresse belegt also, wo die Familie Ionesco zu jener Zeit wohnte: In der Rue Claude-Terrasse Nr. 38 im 16. Pariser Arrondissement. Die Rubrik „Orte“ dieser Website habe ich entsprechend aktualisiert.

Nach dem Krieg hat sich Eugène Ionesco peu à peu in den Pariser Literaturkreisen etabliert. Zu seinen dortigen Kontakten scheint wohl auch der französische Dichter und Essayist André Rolland de Renéville gehört zu haben. Der Briefumschlag ist an dessen Gattin adressiert. Da mir der Brief nicht vorliegt, kann ich über den Inhalt nur spekulieren. Mein erster Gedanke war, dass Eugène Ionesco drei Tage vor dem Datum des Poststempels, am 26. November 1950, Geburtstag hatte. Möglicherweise hat er sich einfach nur höflich für zuvor erhaltene Glückwünsche bedankt.

Und schließlich ist da noch diese Notiz oben links auf der Vorderseite des Umschlags. Diese stammt nach Angaben meines Kontaktes in Frankreich vom bereits erwähnten Autor und Sammler Claude Seignolle. Dieser notierte u.a. zu Eugène Ionesco „né en 1912“, also: geboren 1912. Hier kann man sehr schön sehen, wie Eugène Ionescos kleiner Schwindel mit seinem Geburtsdatum nachwirkte. Eugène Ionesco startete ja relativ spät in seinem Leben eine Karriere als Schriftsteller. Und insbesondere in dem Jahr als Ionesco den Brief schrieb, also 1950, hatte er die in Literaturkreisen möglicherweise magische Altersschwelle von 40 bereits überschritten. Um noch zu den jüngeren Künstlern zu zählen, machte er sich einfach um drei Jahre jünger und gab als Geburtsdatum 1912 an. Die Notiz von Claude Seignolle unterstreicht nur noch einmal, dass der kleine Trick länger gewirkt hat als von Eugène Ionesco um das Jahr 1950 beabsichtigt.

Der Briefumschlag wird nun einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal mit Werken von Eugène Ionesco erhalten.

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