„Wenn ich jemals feindselig war, dann gegenüber der Dummheit und gegenüber der Verletzung von Menschenrechten.”

Quelle und weitere Zitate

Eugène Ionesco 1972: Gibt es überhaupt Humanismus?

Am 6. Mai 1972 - nur wenige Monate vor den Anschlägen auf das israelische Olympia-Team - meldete sich Eugène Ionescos in „Le Figaro littéraire“ zu Wort. Er zeigte sich tief verärgert und deprimiert über den Humanismus auf Erden. Sein Artikel ist etwas später auch in die Essay-Sammlung „Antidotes“ („Gegengifte“) unter dem Kapitelnamen „Menschenjagd“ aufgenommen worden.

In seinem Beitrag thematisiert Ionesco anfänglich, wie allgegenwärtig Gewaltdarstellung in Werbung und Entertainment jener Zeit (!) ist, wie man sich in gewissen Pariser Kreisen daran ergötzt, wie man abstumpft, wie in der Gesellschaft die globale Lebensrealität ausgeblendet wird und wie man sich sein eigenes ideologisches Bild der Welt malt. Ionesco beschreibt die Welt, wie sie zu jener Zeit wirklich ist und es liest sich wie eine Beschreibung der Zeit nach den Anschlägen des 11. September 2001 – und im Grunde wie eine Beschreibung unserer heutigen Zeit. Ionesco stellt die Bereitschaft und Fähigkeit des Menschen zu aufrichtigem Humanismus in Frage. Ein gutes halbes Jahrhundert später sind seine Zweifel noch immer berechtigt – woran bereits das politische Tagesgeschehen stets erinnert. Wo immer eine Partei humanistische Motive vorgibt, sind parteistrategische Hintergründe offensichtlich. Wo immer sich Menschen humanistischer Taten rühmen, lohnt sich ein genauerer zweiter Blick auf die wahren Hintergründe, Vorgänge und Konsequenzen.

Mein früherer Professor für Volkswirtschaftspolitik vermittelte seinen Studenten stets die nüchterne Realität: Alle Akteure des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lebens handeln individuell-rational. Es gibt sogar eine wissenschaftlich fundierte Ökonomie der Wohltätigkeit. Wir erleben zudem teils ganz neue Spielarten der Wohltätigkeit, die man sich so vorstellen darf, dass ein Sankt Martin nicht mehr seinen eigenen Mantel teilt, um jemandem zu helfen, sondern die Mäntel anderer Menschen, um seine Wohltat anschließend umfassend bekannt zu geben und sich am Abend selbstzufrieden zur Ruhe zu begeben – ungeachtet der Folgen der Tat für andere Menschen. Rühmliche Ausnahmen sind eher nicht auf der Ebene einer Nation, einer NGO oder einer Partei zu finden. Es sind seltene und eher stille Helden, die zugleich helfen und persönlich etwas opfern, ohne damit das Kalkül eines persönlichen Vorteils zu verbinden und ohne die Folgen der Tat anderen Menschen aufzubürden.

Eugène Ionesco meinte im Jahre 1972 in Solschenizyn einen solchen Helden ausgemacht zu haben. In der Existenz solcher Lichtgestalten sah Ionesco den Funken Hoffnung auf eine bessere Welt oder zumindest auf die Abwendbarkeit der ultimativen Katastrophe. Aus der Perspektive des Jahres 1972 ist das nachvollziehbar, aber aus der russischen Lichtgestalt ist später, insbesondere nach dem Tode Eugène Ionescos, ein engstirniger Nationalist und einer der geistigen Väter des aktuellen Krieges in der Ukraine geworden. Was bleibt, ist die Hoffnung auf andere, nachhaltigere Lichtgestalten des Humanismus.

Es folgen Ausschnitte aus dem Essay » Menschenjagd « von Eugène Ionesco aus dem Jahre 1972:

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„… Ich erinnere sie daran, dass sich die Menschen an allen Ecken der Welt und auch mittendrin, zwei Flugstunden von uns entfernt, gegenseitig umbringen, dass die Opfer von gestern, die Bengalen, ihrerseits heute die Pakistaner foltern und sie massakrieren. » Das wissen wir, mein Lieber «, antworten die Snobs und schlürfen ihren Whiskey. Ich fahre trotzdem fort, und wenn ich auch nur wiederhole, was ich in den Zeitungen gelesen habe: In den einstigen Kolonien brachten sich die Leute nicht um, solange sie kolonisiert waren. Heute jedoch gehört es in den schwarzen Republiken und Diktaturen, die zu ihren Traditionen zurückgekehrt sind, zu den akzeptierten Kriegsregeln, Gefangene der eigenen Rasse zu foltern und zu töten.

» So ist es eben; es kann nicht anders sein; das Leben ist grausam; Sie sind ein sentimentaler Mensch «, werden die Snobs entgegnen, und wie sie denken die meisten. Sicherlich ist es so – aber weshalb hat man dann im Namen des Gewissens und der Humanität auf die Morde von Oradour reagiert?

Ich fahre fort: In Irland sind die Katholiken wie die Protestanten Mörder. Die tibetanische Zivilisation ist zerstört worden, und niemand hat sich gerührt. Es ist die einzige metaphysische Zivilisation der Welt gewesen. » Dann hat man sie mit Recht zerstört «, werden möglicherweise dieselben Linken des 16. Bezirks erwidern. In Russland ist die jüdische Kultur beinahe ausgelöscht worden. Nationen, die vom imperialistischen Joch befreit wurden, haben heute an ihrer Spitze abscheuliche, grausame Tyrannen. In der Kolonialzeit lebten sie in Armut, heute leben sie in Furcht.

Nicht alle vielleicht, nur diejenigen, die nicht auf selbständiges Denken verzichtet haben. Aber auf diese pfeifen die » guten Seelen « in Paris oder London oder New York. Dafür hatten sie im Namen nationaler Unabhängigkeit Revolutionäre unterstützt, die, kaum an der Macht, selber Despoten wurden, Schrecken verbreiteten und die Gefängnisse füllten. » Wenigstens machen sie das unter sich aus «, entgegnen die Sophisten und falschen Philanthropen und waschen ihre Hände in Unschuld. Ich weiß, ich weiß, ich weiß: so war es immer. Rückschauend sehen wir nichts als zerstörte Zivilisationen, dem Erdboden gleichgemachte Städte, versklavte Völker und Nationen.

Heute bombardieren die Amerikaner bewohnte Provinzen, und die Vietnamesen massakrieren alle, die nicht auf ihrer Seite stehen: Wo immer sie durchzogen, sind später Berge von Leichen, Hunderte und Tausende von Toten entdeckt worden. Stalin hat Millionen Russen umgebracht. So viele Menschen haben nicht einmal die Deutschen umgebracht. Die Millionen ermordeter Juden hat man fast schon vergessen, so dass heute in zynischer und heuchlerischer Weise bereits wieder gefordert werden kann, es seien die Juden in Israel und sogar anderswo auszurotten.

Völlig vergessen ist das Schicksal der Armenier. » Wenn man auch noch die paar Millionen ermordeter Armenier beweinen müsste, könnte man bald nicht mehr weiterleben - nicht mehr ruhig seinen Gin trinken, nicht mehr über Politik reden. Man schert sich den Teufel drum. Es wäre ja noch schöner: die Armenier auch noch ... «

Damit jedoch das gute Gewissen nicht aus der Ruhe komme, rechtfertigt man die Gewalt. Es ist nicht zu leugnen, dass überall auf der Welt, beim Menschen, beim Tier, beim Insekt, Gewalt herrscht. Doch das Bestreben des Menschen und auch der Wille Jesu war es, inmitten der naturgegebenen weltweiten Gewalt eine Nicht-Gewalt zu schaffen. Diesen Gedanken hat man sich zunutze gemacht. Ein Diktator, der zuvor ein Feind der Gewaltherrschaft gewesen ist, führt eine Gewalt der Unterdrückung ein, die schlimmer als alle früheren gewaltsamen Unterdrückungen ist. Der Begriff » Humanismus « ist heute ebenso lächerlich, wie er es zur Zeit der Nazis war.

Man nimmt Geiseln und tötet sie; gerissene Ideologen reden uns indessen ein, es gebe böse und gute Geiseln: Böse Geiseln zu fangen, ist erlaubt, gute zu fangen, ist ein Verbrechen.

Wo ist die gute Gewalt? Auf welcher Seite die böse? Jede Gewalt geht über das notwendige Maß hinaus; neuerrichtete Gewalt ist stets schlimmer als die Gewalt, die sie bekämpft hat. Ein halbes Jahrhundert kommunistischer Herrschaft hat sich als schlimmer erwiesen als die Zarenherrschaft, und die ideale Gesellschaft ist nach wie vor ein Traum, etwas, worüber man lächelt und was man im Grunde gar nicht will. Man sehe sich die Köpfe der russischen Diktatoren an, man sehe die Bestialität in ihren Gesichtern – wo sind die Träumer?

Die ganze Geschichte ist voll von Bartholomäusnächten. Und wenn gesagt wird, all diese Schlächtereien hätten ökonomische, soziale und klassenkämpferische Gründe, dann ist das ein ideotisches, falsches Klischee, an das nur intellektuell Unterentwickelte glauben können ... Ja, wir wissen all das, wir wissen es – wir wissen es nur nicht genug. Neulich haben junge japanische Revolutionäre andere japanische Revolutionäre aus ihrer eigenen Partei erst gefoltert, dann umgebracht, weil sie, so hieß es, » zu persönliche Ideen « hatten oder » Abweichler « waren. Es ist klar, dass sie einzig und allein aus Mordlust getötet haben. In der Türkei haben sich junge Revolutionäre samt ihren Geiseln in die Luft gesprengt. Dieser Kollektivmord erinnert mich an die Morde und Selbstmorde der Eisernen Garden, rumänischen Nazis aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen: Sie handelten genauso wie die türkischen Linken von heute handeln, aber aus anderen Gründen und im Namen entgegengesetzter Ideen. Meiner Meinung nach heißt das, dass voneinander so verschiedene, ja einander entgegengesetzte moralische und ideologische Begriffe die gleichen Anstöße geben und zum gleichen Verhalten geführt haben. Das bedeutet, dass die ideologischen Begriffe bei den einen wie bei den andern nur zur oberflächlichen Rechtfertigung und zur Vertuschung der instinktiven Triebe gedient haben, an deren Ausbruch sie mitschuldig sind. Lange Zeit habe ich geglaubt, die Menschen hassten sich selbst, sie hassten sich in den andern. Jetzt glaube ich, jedermann liebt nur sich selbst und verabscheut die übrige Menschheit.

Alles ist möglich. Es ist sogar möglich, dass die Menschheit überlebt. Wenn sie zu überleben verdient und wenn es ihr zu überleben gelingt, dann verdankt sie es einzig und allein den wenigen Märtyrern und Gerechten, die heroisch wie Solschenizyn mit geradezu dantesker Gewalt, mit Genie und heiliger Überzeugungskraft gegen die Wut, die Dummheit, die Raserei und den Stumpfsinn ankämpfen, die diese Welt regieren.

Vielleicht wird man sich dessen einmal bewusst, und vielleicht gelingt es, allem zum Trotz, die Weltkatastrophe zu vermeiden oder zu bremsen.“

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Entnommen: Eugène Ionesco, Werke 6, Gegengifte, Verlag C. Bertelsmann, S. 428-434

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