„Wenn ich jemals feindselig war, dann gegenüber der Dummheit und gegenüber der Verletzung von Menschenrechten.”

Quelle und weitere Zitate

Eugène Ionesco 1977: "Die missratene Schöpfung"

Kritische Menschen, die einen Hang zum Pessimismus aufweisen, hatten und haben es nicht leicht in einer oberflächlichen Konsum- und Spaßgesellschaft. Eugène Ionesco gehörte Zeit seines Lebens zu jenen Kritikern. Noch im späten Interview mit Ulrich Wickert sagte er "Die Menschen machen Revolutionen, die eine nach der anderen übel ausgehen." Viele Menschen hätten damals und würden noch heute fragen, was denn das Problem sei. So viele Aspekte des Lebens hätten sich doch zum Besseren entwickelt. Wirklich? Spätestens seit dem 24. Februar 2022 dürften sich ein paar mehr Menschen fragen, wie es denn soweit kommen konnte, dass eine einzelne, im moralisch-ethischen Freifall befindliche Gestalt den gesamten Planeten mit einer Apokalypse bedrohen kann. Eugène Ionesco ist Mitte der Siebziger Jahre in einem kurzen Essay über Samuel Beckett einer möglichen Ursache der Fehlentwicklungen sehr weit zurück gefolgt. Er hinterfragte die Schöpfung selbst.

Der folgende Text ist dem Werk "Antidotes" aus dem Jahre 1977 entnommen. Die Übersetzung erfolgte durch Lore Kornell für die im Bertelsmann-Verlag veröffentlichten gesammelten Werke. Anpassungen an heutige Schreibweisen wurden durch den Betreiber der Website vorgenommen.

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"Über Beckett"

Die Deutung, die eminente und weniger eminente Geister dem Werk und der Person Becketts geben, ist abwegig: In Beckett ein Opfer der bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitalismus zu sehen, widerspricht dem Werk und dem Geist des Schriftstellers. Nicht an den sozialen und politischen Lebensbedingungen leidet Samuel Beckett, sondern an der existenziellen und metaphysischen Situation des Menschen. Dieses Unbehagen ist mit den menschlichen Lebensbedingungen eng verknüpft. Alle Gesellschaften sind schlecht; die ganze Menschheit, die ganze Schöpfung lebt von Anfang an im Unglück. Unmöglich, nicht darunter zu leiden, sobald es einem bewusst wird. Wird es einem nicht bewusst, leidet man trotzdem darunter, nur unbewusst. Geboren werden und sterben und zwischen Geburt und Tod töten, um zu essen, das ist nicht zumutbar. Beinahe hätte ich gesagt, das sei nicht "natürlich". Die Schöpfung ist missraten. Sie müsste neu gemacht werden. Sprechen die heiligen Bücher uns nicht von einer erneuerten Welt? Diese tragische Situation des Menschen, dieser Lebensüberdruss ist eine Tatsache, die weder auf den Kapitalismus noch auf das jüdisch-christliche Denken zurückzuführen ist. Hindus, Chinesen, Präkolumbier, alles, was uns von archaischen oder sogenannten primitiven Zivilisationen übriggeblieben ist, beweist, dass diese zumindest unbehagliche Situation von jeher bestanden hat und von jeher aufgezeigt worden ist. Die soziale Lage kann die fundamentale Unlust, in der Welt zu sein, höchstens ein wenig mildern oder verschärfen. Alles Leben ist Leid. Selbst die Tiere leiden. Das ganze Universum ist Leiden: Aggression, Verteidigung, das ist der Kern des Lebens. Wir schlagen uns, wir wehren uns, wir fressen einander auf, wir müssen töten, um zu essen, denn wir leben innerhalb einer geschlossenen Wirtschaft, und nichts fällt von außen zu. Kein Wesen ist mit seinem Tod einverstanden. Für jedes Wesen, sei es Mensch, Tier, Pflanze, bedeutet sein eigener Tod den Tod schlechthin, den allgemeinen Tod. Jeder liegt für alle und für alles im Todeskampf. Unsere Moleküle fressen einander ebenfalls auf. Blickt man durchs Mikroskop auf einen Tropfen Wasser oder Blut, sieht man darin Krieg, Zerstörung, Mord. Eine von andern Ameisen getrennte Ameise fühlt die Gefahr, sie ist in Todesangst und versucht ihrem individuellen Tod zu entkommen. Bataillone von Insekten bekriegen einander, wüten, tun sich weh, bringen sich um. Das ist Naturgesetz, Lebensgesetz, sagt man. Das ist es ja gerade, was unzumutbar ist, gerade gegen dieses Gesetz wehre ich mich. Dieser Widerstand sollte das fundamentale Ziel unserer Revolte sein. Und wenn Er nachher Lust hat, eine neue Welt zu schaffen, dann möge Er es anders anfangen. Keiner ökonomischen oder politischen Revolution ist es gelungen, diese existenzielle Tragikomödie aus der Welt zu schaffen. Ich glaube an den unabwendbaren Bankrott der Revolutionen; sie stoßen den Menschen nur tiefer hinein in sein Unglück. Ob man es will oder nicht, weder Beckett noch andere große Schriftsteller und Künstler unserer Zeit wie auch anderer Zeiten, Kafka, Dostojewski, Céline, Borges, Proust, Faulkner, noch Philosophen wie Nietzsche oder Kierkegaard können ohne Metaphysik oder Religion (das wesentliche Problem, das sie bewegt hat) begriffen werden. Sie haben es nicht lösen können und sie haben sich darin verbissen, wohl wissend, dass es nicht zu lösen ist. Die historischen Umwälzungen führen uns also nur vom Regen in die Traufe.

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War der Titel des ersten Stücks von Beckett, "Warten auf Godot", an sich schon aussagekräftig und klar genug, ist sein letztes Werk, "Der Verwaiser", nicht weniger erhellend. In diesem kurzen, vollkommenen, dantesken Stück geht es um den langen, nie endenden Todeskampf der ganzen Menschheit, die hilflos in dieses Loch, Welt genannt, geworfen worden ist oder in den Vorhimmel, wo sie mühselig versucht, zu den höheren Regionen oberhalb dieser Welt zu gelangen, bis zum heißbegehrten und unzugänglichen Himmel. Der ganze Beckett hat die an Gott gerichtete Klage des Menschen zum Thema. Es ist, wie ich vor Jahren sagte, und der Ausdruck ist übernommen worden, das Bild von Hiob auf dem Misthaufen. Das Theater kann sich nicht weiterentwickeln, wenn es nicht entpolitisiert wird. Die kindische Politisierung des Theaters - von der René Kalisky in einem grundlegenden (natürlich unbemerkt gebliebenen) Text der "Cahiers Renaud-Barrault" spricht - hat in die Sackgasse des heutigen Theaters geführt, zu den Barrieren, die unsere heutigen Autoren nicht überspringen können. Nicht die Politik kann die Welt retten. Die Schriftsteller von heute, die solche Thesen vertreten, zielen daneben. Das fundamentale Problem, das der Existenz, das der nicht politischen, sondern metaphysischen Lebensumstände des Menschen, kann zwar nicht gelöst werden, trägt aber dazu bei, uns über uns selber klarzuwerden, über unsere wahre Situation; es führt uns vor Augen, was wir sind und was wir nicht sein möchten. Wir sind entfremdet, das ist sicher, aber nicht nur durch unsere Gesellschaft. Wir sind entfremdet geboren. "Der Verwaiser" von Beckett ist das genaue, scharfsichtige Bild unserer Agonie, das Bild auch unserer Ignoranz, unseres Nichtwissens. Das ganze Werk Becketts ist Agonie, ein langes, nicht endendes Stöhnen, das Bild menschlicher Ohnmacht, der Weigerung, die Schöpfung und unseren Zustand hinzunehmen. Vielleicht ist Becketts Werk nicht ironisch genug; es hätte sonst so etwas wie metaphysischer Sarkasmus sein können.

Aber da wir schließlich, bewusst oder unbewusst, im Wartezustand sind, geschieht vielleicht etwas - vielleicht morgen. In "Warten auf Godot" kommt der Engel und verkündet, er komme nicht heute, aber er komme; vielleicht hoffen wir mit den Landstreichern, dass er eines Tages sagt, morgen sei heute geworden. Wir hoffen es verzweifelt.

Es heißt, der ungläubige André Gide habe vor seinem Tode gesagt: "Ich habe Vertrauen." Das ist es: man muss Vertrauen haben. Das ist schwerer als zu misstrauen. Beckett ist ungeduldig. Ich bin es auch. Doch eines Tages wird all das weit, sehr weit von uns weg sein. Vorläufig lehrt Beckett uns aufs neue, dass der Mensch ein metaphysisches oder religiöses Tier ist. Ohne Metaphysik wären wir nichts.

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Vollständig nachzulesen in: Eugène Ionesco, "Antidotes", Kapitel "Über Beckett", 1977.

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