„Wenn ich jemals feindselig war, dann gegenüber der Dummheit und gegenüber der Verletzung von Menschenrechten.”

Quelle und weitere Zitate

Ionesco 1961 über „Rhinozeritis zur Rechten und Linken“

Heute habe ich das Bedürfnis, Eugène Ionesco zu zitieren, der sich im Februar 1961 in „Notes et contre-notes“ über den Zustand von Kunst und Theater, aber zugleich auch über den modernen Menschen, über die Nützlichkeit des Nutzlosen sowie die „Rhinozeritis zur Rechten und Linken“ äußerte. Anlass gab mir eine Aufführung von „Die kahle Sängerin“ ganz in meiner Nähe. Eine Aufführung, deren überlieferte Details wohl wieder einmal ein politisiertes Theater vermuten lassen, was Eugène Ionesco stets verabscheute. Anknüpfungen an die Verrenkungen der Sprache unserer Zeit und die Verrenkungen der Welt sucht man offenbar vergeblich. Lassen wir einen Moment Eugène Ionesco sprechen, „Notes et contre-notes“, S. 210-213, Übersetzung für den Bertelsmann-Verlag von Claus Bremer, leichte Korrekturen durch den Betreiber dieser Website:

„Ein Kunstwerk ist also vor allem ein Abenteuer des Geistes.
Wenn Kunst oder Theater unbedingt zu etwas dienen sollen, würde ich sagen, dienen sie dazu, den Leuten wieder beizubringen, dass es unnütze Handlungsweisen gibt und dass deren Existenz notwendig ist. Die Konstruktion einer lebendigen Maschine, das All, das Schauspiel geworden ist und als Schauspiel gesehen wird, der Mensch, der zugleich Schauspiel und Zuschauer ist: da haben wir das Theater. Und damit das neue freie und „unnütze“ Theater, das wir so nötig haben: ein Theater, das wirklich frei ist (das „freie Theater“ von Antoine ist das Gegenteil eines freien Theaters gewesen).

Aber die Leute haben heute schreckliche Furcht vor der Freiheit und vor dem Humor. Sie wissen nicht, dass ohne Freiheit und Humor kein Leben möglich ist. Dass die kleinste Geste, die einfachste Initiative die Kräfte der Phantasie brauchen. Die Leute wissen nicht, dass sie hartnäckig dumm darin fortfahren, die Phantasie gefangen zu nehmen und in den blinden Mauern des engsten Realismus einzusperren, eines Realismus, der tot ist und den sie das Leben nennen; der finster ist und den sie das Licht nennen. Ich behaupte, dass es der Welt an Kühnheit fehlt. Darum haben wir zu leiden. Ich behaupte auch, dass es Traum und Phantasie sind, die nach Kühnheit verlangen, und nicht das flache Leben. Dass Traum und Phantasie elementare und wesentliche Wahrheiten enthalten und eröffnen. Wenn Flugzeuge heute den Himmel durchziehen, so nur deshalb, weil wir vom Flug geträumt haben, bevor wir geflogen sind. Der Traum vom Fliegen hat uns das Fliegen ermöglicht. Und das Fliegen ist etwas Unnützes. Erst nachträglich hat man seine Notwendigkeit nachgewiesen oder erfunden. Als ob wir uns für die tiefgründige und wesentliche Nutzlosigkeit der Sache uns gegenüber zu entschuldigen hätten. Für eine Nutzlosigkeit, die dennoch einem Bedürfnis entsprochen hat. Schwer, jemanden dahin zu bringen, das zuzugeben. Ich weiß es.

Schauen Sie sich die Leute an, die geschäftig auf den Straßen herumlaufen. Sie sehen weder nach rechts noch nach links. Sie machen ein beschäftigtes Gesicht. Wie bei den Hunden klebt ihr Blick am Boden. [Anm. des Website-Betreibers: „Auf das Smartphone konnte erst viel später geblickt werden“] Sie rennen geradeaus, ohne jemals geradeaus zu sehen. Sie bringen mechanisch die im voraus bekannte Strecke hinter sich. In allen Großstädten der Welt ist es das Gleiche. Der moderne Mensch ist allgemein der gehetzte Mensch. Er hat keine Zeit. Er ist ein Gefangener der Notwendigkeit. Es ist ihm unbegreiflich, dass etwas nutzlos sein kann. So begreift er auch nicht, dass es im Grunde das Nützliche ist, das nutzlos drückend auf ihm lasten kann. Wer die Nützlichkeit des Nutzlosen und die Nutzlosigkeit des Nützlichen nicht begreift, begreift die Kunst nicht. Ein Land, in dem man die Kunst nicht begreift, ist ein Land von Sklaven oder Robotern. Ein Land von Unglücklichen, von Menschen, die weder lachen noch lächeln. Ein Land ohne Geist. Wo es keinen Humor gibt, wo es kein Lachen gibt, gibt es Wut und Hass. Die beschäftigten, angstvollen Menschen, die einem Ziel nachlaufen, das kein menschliches Ziel ist oder nur in ihrer Einbildung besteht, können plötzlich zu den Tönen von ich weiß nicht welchen Trompeten, beim Ruf irgendeines Verrückten oder Dämons von einem fieberhaften Fanatismus, von irgendeiner Kollektivwut oder Volkshysterie befallen werden. Die verschiedenen, von der Rhinozeritis Befallenen, zur Rechten und Linken, stellen eine Bedrohung dar, die auf einer Menschheit lastet, die keine Zeit zum Überlegen und damit keine Zeit hat, wieder zu sich oder zu Geist zu kommen. Diese Bedrohung lauert auf die Menschen von heute, die den Sinn für die Einsamkeit und den Geschmack daran verloren haben. Die Einsamkeit ist nicht Trennung. Die Einsamkeit ist Sammlung. Die Gruppierungen, die Gesellschaften sind, wie schon gesagt, meistens nur Zusammenschlüsse von Einsamen. Zu der Zeit, als die Menschen sich noch abschließen konnten, hat man niemals von Mitteilungsschwierigkeiten gesprochen. Die Schwierigkeit, sich mitzuteilen, und die Absonderung sind paradoxerweise die tragischen Themen einer modernen Welt, in der alles gemeinsam gemacht wird. Einer Welt, in der man ununterbrochen nationalisiert und sozialisiert. Einer Welt, in der der Mensch nicht mehr allein sein kann. Sogar in „individualistischen“ Ländern ist das individuelle Gewissen praktisch vom Druck einer bedrückenden und unpersönlichen Schlagwortwelt belagert und zerstört. Unsere Zeit krankt an über- und untergeordneten politischen oder Reklame-Schlagworten: an einer überwältigenden Propaganda. Die Intelligenz ist dermaßen verdorben, dass man es nicht versteht, wenn ein Autor sich weigert, sich unter dem Banner dieser oder jener herrschenden Ideologie zu engagieren. Wenn er sich weigert, sich zu unterwerfen.

Und wenn die Zuschauer sagen, sie haben in einem Stück eine Lehre gesehen, wird das das Nebensächlichste gewesen sein, was sie darin gesehen haben konnten. Was wichtiger in einem Stück als eine Lehre ist? Ganz einfach: die Geschehnisse, die Dinge, die sich ereignen und verknüpfen, sich auflösen und vorbeigehen.

An den Fabeln von La Fontaine interessiert uns nicht die Weisheit. Nicht die Moral. Diese Weisheit ist die elementare und ewige Weisheit des gesunden Menschenverstands. Bestimmt interessiert uns aber die Art, wie sie lebendig, Gegenstand der Sprache und Quelle einer wunderbaren Mythologie wird. Das ist die Kunst: Wunderbares, das lebt. Und das vor allem muss das Theater sein. Weil es das nicht mehr ist, ist in Europa wie in Amerika sein Leben bedroht.

Das Geschäftliche und der „Realismus“ töten das Theater. Sie erwecken es nicht zum Leben. Denn sowohl das Theater, dem die Kühnheit fehlt, das Konfektionstheater des Broadway und des Boulevard, als auch das realistische Theater mit seinen erzbekannten Thesen, von denen es eingeschlossen und gefesselt ist, ist im Grunde irrealistischen Theater. Das eine entspringt dem bürgerlichen Irrealismus, das zweite dem sogenannten sozialistischen Irrealismus. Der bürgerliche und der sogenannte sozialistische Irrealismus stellen die großen Gefahren dar, die dem Theater und der Kunst und damit den Möglichkeiten der Phantasie und der lebendigen und schöpferischen Kraft des menschlichen Geistes drohen.“

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