„Wenn ich jemals feindselig war, dann gegenüber der Dummheit und gegenüber der Verletzung von Menschenrechten.”

Quelle und weitere Zitate

Ionesco & Camus: Hoffnung, Glaube, Revolte

Das deutsche Magazin „philosophie“ widmet Albert Camus in diesem Frühjahr eine Themenausgabe unter dem Titel „Leben in einer absurden Welt“. Es enthält teils großartige Artikel und Interviews über Mensch und Werk. Die Bezüge zu aktuell brennenden Themen wie Krieg, Klima und Migration fallen jedoch deutlich ab und wirken konstruiert. Zum Phänomen des Absurden Theaters, das immerhin in zeitlicher Nähe zu Camus‘ Werk aufblühte, findet man kein Wort. Gut, dass es ionesco.de gibt. Werfen wir einen Blick auf die Beziehung zwischen Albert Camus und Eugène Ionesco.

Schon der Geburtsort offenbart eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Biografien: Beide werden am Ende ihres Lebens zwar überwiegend mit Frankreich in Verbindung gebracht, sind aber nicht in Frankreich geboren. Eugène Ionesco wurde 1909 in Rumänien geboren, Albert Camus rund vier Jahre später in Algerien. Der französische Bezug kommt bei Camus über den Vater, bei Ionesco über die Mutter. Beide erleben bereits in früher Kindheit, als Jugendliche und schließlich als junge Erwachsene im zweiten Weltkrieg die Schattenseiten der menschlichen Natur. Und beide erhalten die Chance, über ein Studium Sicht und Denkweise zu schärfen und sie ins Verhältnis zu der erlebten Welt zu setzen. Eugène Ionesco studiert ab 1929 französische Sprache und Literatur, Albert Camus schreibt sich wiederum vier Jahre später für Philosophie ein.

In der Folge fallen dann einige Unterschiede der Biografien ins Auge. Zunächst nur in Nuancen: Albert Camus ist ab 1935 zwei Jahre lang Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs. Auch Eugène Ionesco sagt von dieser durch den Nationalsozialsmus geprägten Zeit, dass ihn seine Ablehnung des Nationalsozialismus näher an den Kommunismus führte. Aber einer kommunistischen Partei ist er nicht beigetreten. Noch vor dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs im Alter von rund 25 Jahren beginnt Albert Camus mit seiner Arbeit an Werken, die ihn später weltberühmt machen. Eugène Ionesco hat zwar schon als Kind bzw. Jugendlicher Stücke geschrieben, aber seine große Schaffenszeit beginnt erst ein paar Jahre nach dem Krieg. Während des Krieges sind beide überwiegend in Frankreich. Albert Camus verschreibt sich dort der Résistance während Eugène Ionesco eine Stellung in der rumänischen Verwaltung innerhalb der Vichy-Regierung innehat.

Die größten Unterschiede gibt es aber trotz der Verbindung über das „Absurde“ in ihrem Werk sowie in ihrer Philosophie. Albert Camus etabliert sich als Schriftsteller und Philosoph. Er hinterlässt mit den zwei Schlüsselwerken „Der Mythos des Sisyphos“ und „Der Mensch in der Revolte“ eine relativ stringente philosophische Denkweise rund um die Diagnose der Absurdität des Daseins. Das Dasein ist für ihn die Konfrontation des Menschen mit der (schweigenden) Welt. Ohne diese Beziehung gäbe es für Albert Camus nicht das Absurde. Seine Antwort auf diese Diagnose ist dessen Akzeptanz und unentwegte Revolte des Menschen gegen das Absurde im Sinne und in der Gestalt des Humanismus. Im oben genannten Magazin bringt ein Professor für Philosophie, André Comte-Sponville, diesen Denkansatz wie folgt auf den Punkt: „unwiderruflich zu leben und unversöhnt zu sterben“. Darin soll gemäß Albert Camus der absurde Mensch sein Glück, seine positive Lebensenergie finden. Ein Versuch, dem Absurden auf andere Weise zu entkommen, kann nach Ansicht des Philosophen nicht gelingen oder führt ins Unglück. Für Camus ist in diesem Denkmodell beispielsweise Selbstmord inakzeptabel, ebenso aber auch Glaube und Hoffnung. Er lehnt im Grunde jede Flucht in Metaphysik oder Ideologie ab.

Eugène Ionesco entwickelte sich erst nach dem zweiten Weltkrieg zu einem weltweit anerkannten Dramatiker. In seinen Theaterstücken verarbeitete er seine Sichtweisen auf eine Welt, die er nicht versteht, die ihm keiner erklären kann. Er thematisiert darin die Entmenschlichung in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Er greift die sich diametral gegenüberstehenden Aspekte unseres Daseins auf, das Leben, den Tod, das Gute, das Böse. Ionesco karikiert auch unsere Kommunikationsformen und die Entfremdung des Menschen im Allgemeinen. Und das alles macht er nicht nur inhaltlich, sondern auch über die Form. Sein Absurdes Theater verwirft alle bis dato bekannten Konventionen, bricht mit Traditionen und verstärkt gerade dadurch die Botschaft. Neben dem dramatischen Werk vermitteln auch zahlreiche Essays, Tagebücher, ein Roman und ein Fernsehfilm die Ansätze und Denkweisen. Aber im Gegensatz zu Albert Camus stellt Ionesco keine durchgängige Philosophie des Lebens auf. Er gibt keine Ratschläge, sondern vermittelt Zweifel. Er gibt keine Antworten, sondern stellt Fragen und regt an, Fragen zu stellen. Anders als Albert Camus stellt Eugène Ionesco auch das Absurde selbst in Frage, denn, wie er sagte, man habe ja auch keine Vorstellung dessen, was nicht absurd ist. Eugène Ionesco stellt zwar keine komplexe Philosophie in den Raum, aber er hat klare Fixpunkte, um die sich sein ganzes Schaffen dreht: Menschlichkeit, Denken, Hoffnung. Die ersten beiden Fixpunkte hat er ganz sicher mit Albert Camus gemein. Aber das „Hoffen“ würde Albert Camus ihm nicht durchgehen lassen. Der absurde Mensch nach Camus hofft nicht. Er akzeptiert, und revoltiert. Man muss sehr weit zurückgehen, um die Ursprünge der Hoffnung bei Eugène Ionesco zu finden. Er litt Zeit seines Lebens unter der von Albert Camus beschriebenen „schweigenden Welt“. Eine Welt, die keine Antworten gibt auf fundamentale Fragen. In seiner Kindheit hatte Ionesco ausgeprägte religiöse Einflüsse und Erfahrungen. Diese bildeten vermutlich die Basis dafür, dass er sein Leben lang versuchte zu glauben. Ionesco selbst sagte wenige Wochen vor seinem Tod, dass er es nicht geschafft habe, richtig zu glauben. Seine letzten Worte auf dem Grabstein bezeugen bis heute, was davon übrig blieb: Hoffnung. Hoffnung auf die Existenz Gottes. Auf den Sieg der Mächte des Guten. Auf eine Sinngebung. Der Unterschied zu Albert Camus könnte nicht größer sein. Nun muss man aber auch festhalten: Albert Camus wurde mit 46 Jahren aus dem Leben gerissen. Niemand kann sicher sagen, ob die ihm verwehrten Lebenserfahrungen der späten Jahre seine Sicht auf den absurden Menschen noch einmal in Frage gestellt hätten. Anders sieht es bei Eugène Ionesco aus. Er wurde 84 Jahre alt. Und es ist eher unwahrscheinlich, dass weitere Lebensjahre seine Transformation vom Hoffenden zum Glaubenden vorangebracht hätten.

Was ist von der gegenseitigen Wahrnehmung der beiden Autoren überliefert? Sind sie sich begegnet? Haben sie sich wertgeschätzt? Dem Betreiber dieser Website sind keine Textstellen von Albert Camus bekannt, in denen er sich über Eugène Ionesco oder sein Theater äußert. Dieses dramatische Werk hatte immerhin von 1950 bis zum Tode Albert Camus‘ Anfang 1960 nicht nur in Frankreich für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Vielleicht waren die Ansätze auch zu unterschiedlich: Auf der einen Seite stand das Werk Albert Camus in einer gewissen ästhetischen Tradition während auf der anderen Seite jemand alle Konventionen auf den Kopf stellte. Auf der einen Seite ein Philosoph, auf der anderen Seite ein Dramatiker. Auf der einen Seite der Aufruf zur ständigen Revolte, auf der anderen Seite der Glaube an den Bankrott aller Revolutionen.

Es ist Eugène Ionesco, der uns in einer seiner letzten Veröffentlichungen einen Einblick gibt in die Beziehung zueinander. In „Souvenirs et dernières Rencontres“ (1986) schreibt er:

„Albert Camus war von meinen ersten Stücken überhaupt nicht angetan, aber „Mörder ohne Bezahlung“ überzeugte ihn. Er hatte stehend applaudiert und war beeindruckt. Seitdem sah er mich mit anderen Augen. Kurze Zeit später traf ich ihn im Buchladen bei Gallimard, wo er, wie ich, Bücher abholte. Er stand auf der anderen Seite der Ladentheke. Er winkte mir überschwänglich zu und sagte: ‚Ich fahre in die Provence für vierzehn Tage, aber wir werden uns wiedersehen, sobald ich zurück bin.‘ Er fuhr mit Michel Gallimard in die Provence in die Ferien. Auf dem Rückweg, zwei Wochen später, prallte das Auto gegen einen Baum. Er war auf der Stelle tot, Michel, der schwer verletzt war, schleppte sich noch eine Weile hin. Ich erfuhr vom Tode Albert Camus erst während der Proben zu „Die Nashörner“, eine Stunde, nachdem das Auto gegen den Baum geprallt war. Jean-Louis Barrault hantierte auf der Bühne. Eine Binde um den Kopf sollte das angeblich dort festgewachsene fiktive Horn eines Nashorns verbergen. Jemand rief ihn aus dem hinteren Teil der Kulisse, er hastete für einige Sekunden hin und kam völlig verstört und ohne die Kopfbinde wieder. ‚Scheiße‘, sagte er, ‚Camus ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.‘ Die Schauspieler, die im Zuschauerraum darauf warteten, ihre Rolle weiterzuspielen, stießen all einen Schrei aus. Ich stand auf: ‚Das ist nicht möglich, wir brauchten ihn so dringend, diesen gerechten Mann.‘ In der Tat, dieser Mann mit Herz und Verstand fehlte nun, um ein Gegengewicht zu Sartre zu bilden.

In der Biografie von André Le Gall wird Eugène Ionesco aus einem Tagebuch von 1960 zitiert, das dem Betreiber der Website nicht vorliegt. Darin soll Ionesco geschrieben haben: „Sonntag … Ich denke an Camus. Ich habe Camus kaum gekannt. Ich habe ihn ein- oder zweimal gesprochen. Dennoch hinterlässt sein Tod in mir eine enorme Leere. Wir brauchten ihn so dringend, diesen gerechten Mann. Er ist so natürlich, in der Wahrheit. Er ließ sich nicht von der Strömung erfassen. Er war keine Fahne im Wind… Er konnte ein Fels in der Brandung sein, ein Fixpunkt.“

Albert Camus und Eugène Ionesco haben beide auf ihre Art einen Umgang mit den Unwägbarkeiten unserer Existenz beschrieben und glaubwürdig vorgelebt. Beide waren Denker sowie Botschafter des Denkens. Beide haben Menschlichkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Beide haben dabei aber auch unsere Umwelt immer wieder mit einbezogen, was uns Menschen gerade im Augenblick wieder aus unserer isolierten Betrachtungsweise herausholen sollte. Beide haben in diesen schwierigen Fragestellungen nie aufgegeben, haben weder kapituliert noch den leichten Ausgang zur - global betrachtet destruktiven - Konsum- und Spaßgesellschaft gesucht. Man wünschte sich, beiden Autoren zu den zugespitzten Problemen unserer Zeit Fragen stellen zu können. Beispielsweise wie wäre der Humanismus ihrer Zeit mit der ungehemmten und zerstörerischen Expansion des Menschen unserer Zeit in Verbindung zu bringen? Als Camus starb bevölkerten rund drei Milliarden Menschen den Planeten. Aktuell stehen wir kurz davor, die Marke von acht Milliarden zu erreichen. Ist es richtig, nach neuen Planeten zu suchen, die man besiedeln und zerstören kann? Ist das der dem absurden Menschen vorgezeichnete Weg? Eine ewige Flucht des Menschen vor seinem eigenen Wesen, seinem von Ionesco diagnostizierten Unbehagen, seinen Problemen?

Albert Camus und Eugène Ionesco haben uns Wege des Denkens aufgezeigt, um auch diese großen Fragestellungen zu verarbeiten. Es liegt an uns, sie zu begehen.

Zurück