Jacques Attali: Spuren von Voltaire und Ionesco
Vor einigen Wochen sah ich auf France 24 ein Interview mit Jacques Attali. Es ging um den Krieg in der Ukraine. Gegen Ende des Gesprächs wurde kurz ein Buch angesprochen, das Jacques Attali im Frühjahr veröffentlicht hat. Der Titel: „Le Livre de Raison“. In diesem Roman geht es um die fiktive Geschichte einer Familie bzw. eines ganzen Familienstammbaums über einen Zeitraum von über 200 Jahren. Erzählt wird das Epos allerdings nicht in klassischer Form, sondern über zwölf sogenannte „Livre de Raison“. Dabei handelt es sich um eine alte Tradition, nach der ein Mensch zum Ende seines Lebens wesentliche Ereignisse, Beweggründe und Botschaften für die nachfolgende Generation zu Papier bringt.
Ich muss gestehen, dass ich mich in Deutschland über den Autor zunächst im Internet erkundigen musste. Was ich dort las, was ich von ihm im Interview hörte und was ich über das Buch erfuhr, machte mich neugierig. Ich beschloss, das Buch im anstehenden Urlaub in Frankreich zu kaufen und direkt zu lesen. Und was ich las, hat Eindruck hinterlassen.
Spuren von Ionesco
Schon sehr früh im ersten „Livre de Raison“, verfasst durch die Romanfigur Jean Chardin, wird eine Warnung an die kommende Generation ausgesprochen, die auch von Eugène Ionesco hätte stammen können: „Das Leben ist absurd, und nur die Romantiker beharren darauf, ihm einen Sinn zu geben.“ Es war vielleicht auch eine frühe Warnung an den Leser, dass das nun Folgende – trotz aller Fiktion – nicht einfach zu verarbeiten sein wird. Es folgt eine Familiengeschichte, die – wie die Geschichte der ganzen Menschheit – Gutes sowie abgrundtief Schlechtes hervorbringt. Am aktuellen Ende der Ahnengalerie (2022/23) verbleiben zwei Charaktere: Cousin und Cousine. Zwei Charaktere, die die Kontraste der Familiengeschichte verinnerlicht haben und zu zwei sehr unterschiedlichen Haltungen gelangen. Pierre-Abdul Chardin ist der letzte Nachfahre des Stammbaums, dem innerhalb der Familie – durch einen Teil der Familie – großes Leid zugefügt wurde. Er ist desillusioniert, pessimistisch – nicht nur mit Blick auf seine Mitmenschen, sondern auch auf den ganzen Planeten.
Man fühlt geradezu die gedankliche Nähe zu Eugène Ionesco, über den ein enger Freund schon 1934 sagte, „Sein ganzes Schreiben ist ein unentwegtes Bekenntnis am Rande der Verzweiflung.“. Nur muss man Eugène Ionesco eine doch insgesamt positivere Sicht attestieren. So hat er im nicht bezweifelbaren Bösen letztlich auch den Beleg dafür gesehen, dass es das Gute geben muss, auch Gott. Ihm ging es um Bewusstsein für unser schöpfungsgemäßes Wesen, und für das Böse. In seiner Rede „Warum ich schreibe“ aus dem Jahre 1986 sagte er beispielsweise in Bezug auf unsere Spezies und die Grundlagen unserer Schöpfung: „töten wir so wenig wie möglich; die Ideologien ermutigen uns zu töten, entmystifizieren wir sie also…“ Das klingt nach der Suche nach Möglichkeiten, der eigenen Natur zu entkommen. Auch sah Ionesco eine Chance darin, dass der Mensch im Anderen auch sich selbst erkennt. „… die Nächstenliebe ist eine Gnade, eine Gabe, ein Ausweg, der einzige vielleicht.“, sagte er noch 1986. Nur bleibt die Frage offen, wieviel Liebe wir einem Nächsten entgegenbringen, der nur auf Zerstörung aus ist, und was diese Liebe zu bewirken im Stande ist.
Spuren von Voltaire
Schon die bereits erwähnte Romanfigur des Pierre-Abdul Chardin lässt einen an Voltaires Candide denken: Er zieht als junger Mensch hinaus in die Welt, sieht die Niedertracht, sieht die Zerstörung, sieht die Lüge, sieht die Heuchelei. Er schaut auf die Geschichte seiner Familie und gewinnt keine bessere Sicht. Der Candide‘sche Lehrer Pangloss wird ersetzt durch seine eigenen Lebenserfahrungen und die Geschichten seiner eigenen Familie. Anders als Candide kann er den Blick vom Bösen nicht abwenden, kann nicht nach vorne schauen. Pierre-Abdul verschreibt sich der Gerechtigkeit. Er will mit aller Deutlichkeit das Böse benennen, der Heuchelei in der Familie und auf der Welt entgegentreten. Anders seine Cousine, Sophie-Julia-Lian Chardin. Sie sieht ebenfalls die vielseitige Monströsität überall auf der Welt, will aber keinen Kampf dagegen führen. Sie will das Gute fokussieren, das Schöne wahrnehmen, sich versöhnen, lieben, ihren Garten bestellen. Der größte Unterschied zu Voltaire ist, dass Jacques Attali auf jede Form von Satire verzichtet. Trotzdem lassen beide keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Themas: die Natur des Menschen. Im Klappentext einer deutschen Ausgabe von „Candide“ aus dem Jahre 1988 wird Heinrich Mann wie folgt zitiert: „Goethe hat zur Menschheit die hohe ferne Liebe eines Gottes zu seiner Schöpfung; Voltaire kämpft für sie im Staub. Er ist einseitig und will nicht anders sein. Er ist die Revolte des Menschen gegen die Natur, gegen ihre Stumpfheit und Langsamkeit, Ungerechtigkeit und Härte. Ihrem dummen Ernst sticht er Wunden mit seinem Witz, der menschlichsten Erfindung.“
Kommen wir noch einmal kurz zurück auf die Romanfigur Sophie-Julia-Lian Chardin. Ihre Haltung, das Gute zu fokussieren und den eigenen Garten zu bestellen, verstanden in dem Sinne, dass man bei sich anfängt, die Welt im Kleinen zu verbessern, ist ganz sicher eine verheißungsvolle Option. Bedeutet diese Haltung aber darüber hinaus, sich aus allem herauszuhalten, das Böse zu meiden, so funktioniert das spätestens in der globalisierten Welt nicht mehr. Nahezu jeder Mensch ist mit seiner Ernährung, seinem Konsum, seinem Energieverbrauch etc. auch Teil des Bösen auf dieser Welt. Die aktuellste Krise macht uns das noch einmal besonders deutlich. Wenn auch der Anteil der meisten Menschen sehr klein ist, in der Summe ist dieser höchst relevant. „Es ist nicht möglich, trunken jenseits von Gut und Böse zu sein, wie Nietzsche es wollte…“, sagte Eugène Ionesco im Rahmen seiner 1986 gehaltenen Rede „Warum ich schreibe“.
Die Bedeutung der Lüge
Ein Kernthema, das sich durch den ganzen Roman zieht, ist die Lüge. Zu Beginn möchte man noch glauben, dass gerade die letzten Worte an die nächsten Verwandten von Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit geprägt sind. Aber schon bald muss der Leser in diesem Roman erfahren, dass dem nicht so ist. Warum auch? Wenn schon das Böse in uns allen steckt, dann auch die Lüge. Warum sollte diese vor unserer vertrautesten Einheit des Zusammenlebens, der Familie, Halt machen? Sie macht in nicht wenigen Fällen noch nicht einmal vor uns selbst Halt. Wer könnte ernsthaft behaupten, immer ehrlich zu sich selbst zu sein? Es soll Menschen geben, die sich selbst so lange belogen haben, dass sie ihr wahres Ich und ihre wahre Umwelt gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Das tiefer gehende Problem ist, dass die Lüge nicht nur die Wahrheit zerstört. Sie zerstört langfristig auch Menschen. Das zeigt der Roman „Le Livre de Raison“ auf eindrucksvolle Weise.
Der aktuelle Krieg in Europa hat übrigens wieder das Zitat zum Vorschein gebracht, das erste Opfer des Krieges sei die Wahrheit. Die Wahrheit aber ist, dass auch schon vor dem Krieg auf vielen Ebenen, in allen Gesellschaften gelogen worden ist, wo immer es opportun erschien. Ich spüre den Drang, wie im Roman die Figur des Pierre-Abdul Chardin, alle diese belegbaren Unwahrheiten anzusprechen, aufzudecken, ja bloßzustellen – damit sie nicht auf ewig zu Wahrheiten verklärt werden. Aber dann spricht wieder die Stimme seiner Cousine Sophie-Julia-Lian aus mir. Es ist schwierig zu sagen, welcher Weg richtig ist.
Letzte Anmerkungen
Es spricht viel dafür, dass in allen genannten Ansätzen und Sichtweisen eine Chance auf, wenn nicht Lösung, so zumindest Linderung besteht. Alles fängt allerdings an mit dem Bewusstsein für unser Dasein, für unsere Natur. Die aktuellste Krise hat uns die Wichtigkeit dieser Basis erneut vor Augen geführt. Die vermeintlich gescheitesten Leute haben sich bei der Suche nach Partnern und Wohlstandsgaranten auf Logiken und Rationalitäten verlassen, die im Grunde nur die ihren waren. An die wilde bis böse Natur des Menschen, die wir doch vor gar nicht so langer Zeit noch im eigenen Lande erlebt haben, wollte niemand mehr denken. Und das obwohl der Partner seine Verderbtheit so viele Male schon gezeigt hatte. Das positive Denken, die Nächstenliebe, das Erkennen des Anderen in sich selbst, das alles ist auf einer anderen, menschlichen Ebene der vermutlich einzige Weg zur Linderung des allgemeinen Unbehagens der Menschheit. Aber wir treffen leider immer wieder auf den Typus Mensch, den Ionesco uns in „Mörder ohne Bezahlung“ näher bringt: „Das spätere Opfer forscht den Mörder aus, um die Gründe seines Hasses zu erfahren – vergeblich. Der Hass kann Vorwände haben, einen Grund hat er nicht. Der Mörder tötet, weil er nicht anders kann, ohne wirkliche Motivation, mit einer Art Einfalt und Reinheit. Wir töten uns selbst, wenn wir die anderen töten.“ (Eugène Ionesco, „Warum ich schreibe“, S. 31)