Essay: Gegengifte
1977 erschien Eugène Ionesos Essay-Sammlung "Antidotes" (übersetzt: Gegengifte). Schon zuvor erschienen Sammlungen Ionescos dieser Art mit Essays zu verschiedenen Aspekten seiner Biographie, seines Werks, der Gesellschaft und des Lebens. "Antidotes" war eine seiner späten Essay-Sammlungen. Etwas Vergleichbares hat Ionesco danach nur noch einmal veröffentlicht, zwei Jahre später unter dem Titel "Der fragwürdige Mensch" (original: L'homme en question).
"Gegengifte" ist in der deutschen Ausgabe "Eugène Ionesco Werke 6" aus dem Verlag Bertelsmann enthalten und enthält dort folgende Kapitel:
Das Wagnis, anders zu denken als die anderen
Das Phantom der Revolution
Unsere Zeitgenossen, die Gallier
Auszug aus einem Gespräch mit Frédéric Towarnicki
Die Kultur ist nicht Sache des Staates
Über Beckett
Ein Seelenarzt
Warum ich schreibe
Bertelsmann hat sich unter dem Titel "Gegengifte" lediglich einen Teil der Essays des Original herausgegriffen und diese in einer Übersetzung dem deutschsprachigen Leser zugänglich gemacht. Wie groß die Auswahl ist, kann man an den Seitenzahlen recht gut erkennen: Das Original zählt rund 350 Seiten, während die deutsche Übersetzung in diesem Sammelband des Bertelsmann-Verlags nur auf rund 80 Seiten kommt. Das Original enthält folgende grobe Struktur. Darunter sind die zahlreichen Essays zu finden:
De Prague à Londres, La honte
La culture n'est pas l'affaire de l'état
J'aurais écrit, de toute façon
Notes, fragments, polémiques, entretiens
Conclusion
Um ein Gefühl für Essays aus der Feder Eugène Ionescos zu vermitteln, soll im Folgenden ein Auszug aus dem ersten Kapitel in der Übersetzung von Lore Kornell für den Band 6 der "Eugène Ionesco Werke" zitiert werden. Es stellt nur den Beginn dieses Kapitels der Essay-Sammlung dar.
"Das Wagnis, anders zu denken als die andern"
"Nicht so zu denken wie die anderen, kann einen in eine sehr unangenehme Lage bringen. Anders denken als die andern, bedeutet ganz einfach, überhaupt zu denken. Die andern, die zu denken meinen, übernehmen in Wahrheit gedankenlos die gängigen Slogans, oder aber sie sind Opfer von verzehrenden Leidenschaften, die sie nicht analysieren wollen. Warum weigern sich diese andern, die Systeme von Klischees, die Kristallisationen von Klischees, aus denen ihre fix und fertige Philosophie besteht, wie Konfektionskleidung auseinanderzunehmen? In erster Linie natürlich, weil die gängigen Ideen ihren Interessen oder ihren Impulsen dienlich sind und weil dies ihr Gewissen beruhigt und ihr Handeln rechtfertigt. Wir alle wissen, dass man im Namen einer 'edlen, hochherzigen Sache' die abscheulichsten Verbrechen begehen kann. Auch gibt es sehr viele, die einfach nicht den Mut haben, auf Allerweltsideen und allgemein übliche Reaktionen zu verzichten. Das ist umso ärgerlicher, als beinahe immer der Einzelgänger recht hat. Nur eine Handvoll Menschen, zunächst verkannt und isoliert, verändert das Gesicht der Welt. Aber wie schnell wird aus einer Minderheit die Mehrheit. Und sobald aus den 'Wenigen' 'Viele' geworden sind, denen man blind folgt, ist der Moment gekommen, wo die Wahrheit verfälscht wird.
Von jeher hatte ich die Gewohnheit, gegen die andern zu denken. Schon als Gymnasiast und später als Student stritt ich mich mit meinen Lehrern und Kameraden herum. Ich versuchte zu kritisieren, ich wehrte mich gegen die 'großen Ideen', mit denen man mir Kopf und Magen vollstopfen wollte. Das hat zweifellos psychologische Gründe, das ist mir bewusst. Jedenfalls bin ich froh, so zu sein, wie ich bin. So bleibe ich denn wirklich ein Einzelgänger und lehne es ab, die Ideen der andern zu teilen.
Aber wer sind 'die andern'? Bin ich allein? Gibt es Einzelgänger?
Tatsächlich sind diese andern Leute unsere Umwelt. Diese Umwelt kann eine Minderheit bilden, die uns vorkommt wie alle Welt. Wer nun innmitten dieser 'Minderheit' lebt und nicht so denkt wie sie, auf den übt diese 'Minderheit' einen dramatischen intellektuellen und gefühlsmäßigen Terror, einen nahezu unerträglichen Druck aus. Auch ich habe manchmal aus Erschöpfung, aus Angst gewünscht und versucht, zu 'denken' wie die andern. Aber meine Veranlagung hat mich vor dieser Versuchung bewahrt. Ich wäre gescheitert, hätte ich nicht gemerkt, dass ich in Wirklichkeit nicht allein war. Es genügte, mich in eine andere Umgebung, ein anderes Land zu begeben, um Brüder zu finden, Einzelgänger, die fühlten und reagierten wie ich. Oft, wenn ich mit dem 'Jedermann' meiner begrenzten Umwelt brach, traf ich zahlreiche 'Einzelgänger' aus der mit Recht so genannten schweigenden Mehrheit. Es ist sehr schwierig zu erkennen, wo sich die Minderheit und wo die Mehrheit befindet, schwierig auch zu wissen, ob man vorne steht oder hinten. Wie viele Menschen der verschiedensten Klassen haben sich doch in mir wiedererkannt!
Wir sind also nicht allein. Ich sage das, um die Einzelgänger zu ermutigen, das heißt jene, die sich in ihrer Umwelt verloren fühlen. Aber wenn es so viele Einzelgänger gibt, vielleicht sogar eine Mehrheit von Einzelgängern, hat diese Mehrheit dann noch immer recht? Mir schwindelt bei diesem Gedanken. Nichtsdestoweniger bleibe ich überzeugt, dass man ein Recht darauf hat, sich seiner Umwelt zu widersetzen."
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Eugène Ionesco, "Gegengifte", in: "Eugène Ionesco Werke 6", Seite 423-424, Verlag C. Bertelsmann